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Ein Plädoyer für mehr Akzeptanz und Achtung füreinander

Ein Interview mit Nora Dahmer 

Wir treffen uns mit Nora Dahmer zum Interview. Nora ist erfolgreiche Autorin, Beraterin und bezeichnet sich selbst als transidenter Mensch. Geboren in einem männlichen Körper, merkte sie mit 14 Jahren, dass das nicht ihrem gefühlten Ich entspricht. Mit Mitte 50 entschloss sie sich, das Versteckspiel zu beenden. Heute lebt sie als Nora Dahmer und ist bei sich angekommen.

Im Rahmen unserer #empowerment-Reihe haben wir Nora eingeladen, einen Vortrag auf unserem Town Hall zu halten. Im anschließenden Interview mit unserer Kollegin Philine Ginsberg spricht Nora über ihren Weg, über Akzeptanz, Offenheit und über Diversität in der Beratungsbranche.

Nora, beschreib bitte, was sich hinter Transidentität verbirgt und wie du dich als transidenter Mensch gefühlt hast. 

Nora Dahmer: Transidente Menschen sind Menschen, die in einem biologisch bestimmten Geschlecht geboren wurden, sich aber gefühlsmäßig auf der Identitätsebene diesem nicht zuordnen. Dann ist es in der Regel so, wenn man nur mit zwei möglichen Geschlechtern aufgewachsen ist, dass man sich ganz konkret dem anderen Geschlecht zugehörig fühlt. Das war zum Beispiel bei mir der Fall. Heute ist es gesellschaftlich freier, sodass es auch Menschen gibt, die sich zwischen den Identitäten einordnen (non-binär), aber sich faktisch nicht dem Geschlecht zugehörig fühlen, in das sie hineingeboren wurden. […]

Mit 14 Jahren wusste ich, dass ich eine Frau bin. […] Natürlich sozialisierte ich mich im Laufe des Lebens als Mann, aber von der Zugehörigkeit war ich eindeutig eine Frau. Am leichtesten zeigte es sich mir beim Blick in den Spiegel: Ich konnte einen Mann sehen, der lächeln und böse gucken konnte, aber ich wusste immer: Das bin nicht ich. Das heißt, gefühlt war das Spiegelbild eine fremde Person. Das war jedes Mal ein quälender Moment. […] 

Die Identitätsstörung als solches ist keine Krankheit, sondern ist eine Unwucht, die zu einer psychischen Krankheit führen kann. Viele Menschen sagen, Transmenschen seien krank. Das stimmt, viele sind krank. Aber nicht, weil sie transident sind, sondern weil sie mit den Rahmenbedingen nicht mehr klarkommen. Das ist schon eine riesige Belastung, wenn du dein ganzes Leben weißt, dass du eine Rolle vertrittst, aber nicht du selbst sein kannst. 

In einem Interview mit dem Fachmagazin CONSULTING.de hast du gesagt, dass die Beratungsbranche noch weit weg von gelebter Diversität ist. Welche konkreten Schritte gibst du uns mit auf den Weg, wie wir uns dem Thema weiter nähern können?

Nora Dahmer: Ich habe das vor allem damit begründet, dass ich merke, dass in den letzten Jahren die Diskussion über die Rolle der Frau in der Beratung diskutiert wird als kämen wir aus dem Mittelalter. Equal Pay und andere Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein sollten. […] Gerade beratende Menschen sollten wissen, dass Beratungs- und Methodenkompetenz, in Kombination mit einer offenen Persönlichkeit, einen guten beratenden Menschen ausmachen. Nicht aber, ob sie Männlein oder Weiblein sind. 

Die Beratungsbranche ist in vielen Fällen geprägt durch extreme Alphatiere. Menschen, die leider oft einfach ihre Macht ausleben wollen. Teilweise auch eitel sind und ihre Funktion als beratender Mensch falsch verstehen. Das ist ein ungeschützter Beruf – ich kann damit wahnsinnig viel Geld verdienen und ich muss dafür noch nicht einmal eine kontinuierliche Leistung schaffen, sondern ich muss Merkmale haben, die im Raubtierkäfig Bestand haben, das prägt die Branche. Das soll aber kein Rundumschlag für die Branche sein, in der viele großartige Menschen arbeiten. 

Wenn wir aber heute über Diversität in der Beratungsbranche sprechen, reden wir häufig über Gender – in Bezug auf Frauen und deren Rolle. Das ist extrem wichtig und notwendig. Aber wenn wir sehen, dass wir noch in dieser Diskussion stecken, dann kann man nicht weit sein mit Diversität! Diversität ist all das, was nicht zur heteronormativen Zweigeschlechtergesellschaft gehört bzw. was nicht aus unserem ursprünglichen Kulturkreis stammt, d. h. Migrationshintergrund, eine andere ethnische oder religiöse Basis hat. […]

Jeder Mensch sollte das Recht haben, so zu leben wie es der eigenen Vorstellung entspricht und niemanden schadet und dabei sollte er in der Gesellschaft entsprechend akzeptiert werden. Die Bemühungen für die Gleichberechtigung der Frau überschatten vieles, weil sie rein mengenmäßig zahlreiche betrifft, aber faktisch ist es so, dass wir jedes Thema angehen müssen, was Menschen betrifft. Wir können Menschen nicht liegen lassen. Ich habe schon in Diskussionen gehört: „95 % der Menschen betrifft das doch gar nicht, warum regen wir uns darüber auf?“ 

Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch dieser 5 % es wert ist, sich darüber aufzuregen. Wie soll ich denn einer betroffenen Person erklären, dass es eigentlich völlig egal ist, wie er*sie sich fühlt, weil er*sie nicht zu den 95 % gehört? Wir müssen es schaffen die unterschiedlichen Diversitätsdimensionen parallel anzupacken.

Hast du konkrete Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber*innen? 

Nora Dahmer: Kommunizieren, dass im Unternehmen ein Safe Space herrscht. Zudem sollte deutlich gemacht werden, dass es zu Konsequenzen führt, wenn Menschen, die sich outen, Diskriminierung erfahren. Es sollte der Geist versprüht werden, dass ich als Transmensch oder als homosexueller Mensch auch über meine Partnerschaft und Familie reden kann, genau wie alle anderen. Wenn jemand anfängt, schlechte Stimmung zu machen, sollte klar sein, dass das von der Geschäftsführung nicht geduldet wird. Im Grunde ist es so banal. Wenn wir diese Normalität aber erreichen, dann haben wir’s!

Wie können Kolleg*innen der Person begegnen, die sich outet? Was fändest du hier wertschätzend?

Nora Dahmer: Wir sind alle Individuen und deshalb wird jede*r damit individuell umgehen wollen. Ich glaube es ist wichtig, dass keine Übergriffigkeit entsteht nach dem Motto „Jetzt hast du dich mit einer Eigenschaft geoutet, die ungewöhnlich ist“ und dass eine übertriebene Neugier vermieden wird. […] Behandle die Person dann nicht, als sei er*sie jetzt eine offene Tür, sondern gehe weiterhin mit Respekt vor. 

Wenn du mit jemandem sprichst und merkst, dass die Person, die sich geoutet hat, sehr mit sich selbst beschäftigt ist und vielleicht noch gar nicht darüber reden mag, aber vielleicht schonmal froh ist, diesen Schritt gemacht zu haben, dann spürt man das als Gegenüber und benimmt sich ganz normal als hätte es dieses Outing nicht gegeben. Dieser Mensch ist immer noch derselbe. […] Oder man kann auch vorher fragen, ob man eine Frage stellen darf, aber nicht einfach fragen. Die Person, die sich öffnen will, die den Austausch braucht, wird in der Regel auch von sich aus Signale senden, dass man fragen darf. Zum Beispiel indem er*sie in Gesprächen auf Dinge anspielt, die Fragen provozieren. […]

Das ist sehr individuell, Transmenschen sind ja nicht nach einer Schablone gebaut.

In Deutschland liegen bislang kaum empirische Erhebungen zur Diskriminierung von Transpersonen in der Gesellschaft und im Arbeitsleben vor. Es gibt aber einige Studien zur Situation in europäischen Ländern oder der USA. In einer Befragung von Transpersonen in den USA gaben 26 % der Befragten an, aufgrund ihres Trans-Seins ihre Arbeitsstelle verloren zu haben. Was ist aus deiner Sicht der Grund dafür?

Nora Dahmer: Vielleicht ist das in Deutschland vergleichbar, weil Menschen ähnlich gestrickt sind. Du begegnest Menschen, die in deine eigenen Normen und Ordnungssysteme nicht so richtig reinpassen. So erscheint für viele die Zusammenarbeit erstmal schwierig und dann passieren völlig unmenschliche und überzogene Reaktionen. Man muss aber auch sagen, dass es natürlich Menschen gibt, die betroffen sind, die selber Fehler machen. Nur weil wir trans sind, sind wir nicht heilig; auch ein Transmensch kann sich falsch verhalten und eine Aura um sich aufbauen nach dem Motto: Ihr müsst das jetzt genauso machen! 
Das steht einem gepflegten Miteinander im Wege. Ich glaube, dass ein Grund für die überwiegende Anzahl, die einen Job verliert oder diesen nicht bekommt, der ist, dass sich die Gesellschaft nicht weit genug darauf einlässt und einzelne Entscheider*innen dann blockieren. 

Auf der anderen Seite gibt es aber sicherlich auch einen kleinen Anteil von Fällen, wo es das Problem der Transmenschen ist. Aber generell ist der Anteil von Transmenschen in der Bevölkerung sehr gering – das betrifft den Promillebereich. Viel wichtiger sind auch die anderen, die noch zu LGBTQIA+ gehören: Beispielsweise Menschen, die homosexuell sind. In vielen Ländern werden sie auch weiterhin diskriminiert und kriminalisiert. Ich möchte nicht wissen, wie viele Menschen – vordergründig wegen einer anderen Sache – ihren Job verlieren, weil sie sich zu einer homosexuellen Partnerschaft bekannt haben. Wie viele Menschen haben früher Selbstmord begangen, weil die Gesellschaft gar nichts zugelassen hat. Ich kann verstehen, dass Menschen vor 50 Jahren beschlossen haben, ihrem Leben ein Ende zu setzen, weil sie keine Chance sahen, nur einen Hauch von Anerkennung zu bekommen. […]

Für wie wichtig hältst du die Umsetzung einer gendersensiblen Sprache?

Nora Dahmer: Gendern ist ein Bestandteil des Entwicklungsprozesses. Man darf es nur nicht übertreiben. Wenn ich Menschen, die nicht ausreichend für Problemstellungen sensibilisiert wurden, mit sprachlichen Änderungen überfordere, löst das eine Blockade aus. Das ist ein schwieriger Spagat, die richtige Sprache zu finden und gleichzeitig aber nicht kontraproduktiv zu sein. Sprache ist ein wichtiges Element, um Menschen, für die eine erweiterte Sprache wichtig ist, nicht zu benachteiligen. 

Ich bringe immer den Vergleich, dass unsere Ahnen ihre Großeltern noch gesiezt haben. Da war das selbstverständlich und niemand hat darüber nachgedacht. Die Sprache hat sich in einem normalen Prozess weiterentwickelt und die, die sich damals gesiezt haben, haben dann erstmal gedacht: „Um Gottes Willen, ihr könnt doch nicht alles duzen.“ 

Dann kam die Phase der Anglizismen, weil es schick und international war. Ich halte Fremdwörter in der Sprache dann für sinnvoll, wenn sie Platzhalter sind für Begriffe, die wir im Deutschen nicht haben. […] Aber in meinen Augen wurde es hier auch an einigen Stellen übertrieben, sodass Fachbegriffe eingeführt wurden und keine*r mehr verstanden hat, worum es geht. Das ist genau der gleiche Entwicklungsschritt, der jetzt geschieht. Es wird geräuschlos passieren, die junge Generation wird ihre gendergerechte Sprache finden und wir Älteren werden damit leben, dass sich Sprache verändert und sollten diese Entwicklung nicht aufhalten. […]
 

Danke an Nora Dahmer für die offenen Worte und das herzliche Interview.

Wenn du mehr über Nora erfahren möchtest, besuche ihre Homepage https://www.noradahmer.de/.

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Nora Dahmer ©Monika Plump Fotografie

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