Anti-Pattern in Retrospektiven
Retrospektiven dürften den meisten Menschen in der Arbeitswelt ein Begriff sein – besonders, wenn die Personen im agilen Umfeld unterwegs sind. Falls du gerade das erste Mal davon liest, könnte man Retrospektiven in einem Satz so zusammenfassen: Das Team oder die Organisation schaut auf die zurückliegende Zeit und arbeitet einerseits Punkte heraus, die gut gelaufen sind sowie andererseits Punkte, die sie in der nächsten Zeit verbessern oder ausprobieren wollen.
So kann das Team oder die Organisation lernen, ausprobieren und ganz nach dem agilen Ansatz des „Inspect & Adapt“ vorgehen.
Aber Vorsicht: Wie bei allen Dingen, die langsam zur Gewohnheit werden, besteht die Gefahr, dass sich Muster einschleichen, die weniger hilfreich für den Prozess sind. Eines thematisieren wir in diesem Artikel und stellen Möglichkeiten vor, dagegen vorzugehen: Anti-Pattern in Retrospektiven – der Sturz der Retrospektive.
Eine Retrospektive kostet nur Zeit – oder?
Die Retrospektive ist der Termin, der in vielen Projekten als Erstes gestrichen wird, wenn das Projekt unter Druck gerät. Oft begleitet von Sätzen, wie zum Beispiel: „Wir haben keine Zeit für die Retrospektive!“ – „Wir müssen noch Wichtigeres machen!“ – „Der*die Kund*in will noch XY haben – sorry!“ – „Können wir nicht nur jedes zweite Mal eine Retrospektive haben?“
Es mutet komisch an, zuerst den Termin abzuschaffen, der eigentlich genau dafür da ist, Maßnahmen und Lösungen zu finden, um mit dem Druck oder den bestehenden Problemen besser umzugehen. Was die Personen meist vergessen ist, dass sich persönliche Herausforderungen in Teams, genauso ansammeln wie technische Schulden bei einer unrunden Coding-Praxis. Bei den technischen Schulden wird eine schlechtere Qualität in Kauf genommen, wodurch sich Fehler einschleichen, die ständig behoben werden wollen, Teile kommunizieren nicht gut miteinander oder stehen nicht mehr in Kontakt.
Ebenso können sich in Teams persönliche Schulden ansammeln, die dazu führen, dass die Qualität sinkt, z. B. werden Missverständnisse nicht aufgearbeitet, das Verständnis füreinander fehlt oder (Kommunikations-)Prozesse passen nicht mehr zusammen. Das macht die kommende Arbeit langsamer, anstrengender und weniger effizient. Eine effektive Retrospektive kann Teams jedoch resilienter machen und unterstützen, schwierige Zeiten zu meistern und als Team gestärkt daraus hervorzugehen.
Warum fällt nun oft die Retrospektive als Erstes?
Die oben stehenden Aussagen und Fragen deuten schon einige Aspekte an. Wir können weitere Hypothesen aufstellen, warum der „Sturz der Retrospektive“ gefordert wird:
- Die teilnehmenden Personen sehen keinen Sinn in der Retrospektive, da diese keine Wirkung entfaltet und keine Änderung sichtbar wird.
- Das Team entscheidet in der Retrospektive zwar Maßnahmen, setzt diese aber dann im Nachgang nicht um.
- Das Team nimmt sich zu viel vor und paralysiert sich dadurch selbst.
- Das Team spricht in der Retrospektive die wirklichen Themen nicht an, da keine psychologische Sicherheit existiert.
- Die Maßnahmen werden zu schnell entschieden, um die Retrospektive so kurz wie möglich zu halten, ohne auf die Auswirkungen zu achten.
- Es wird immer über das gleiche Thema geredet – nur im anderen Mantel.
- Das Team versucht Dinge außerhalb seines Einflussbereiches zu ändern.
- Es werden keine neuen und interessanten Maßnahmen ausprobiert, sondern immer wieder dieselben.
All das und vieles andere kann dazu führen, dass eine Retrospektive den Beteiligten nicht sinnhaft erscheint.
Wege aus der Retro-Müdigkeit
Um herauszufinden, warum dein Team Retro-müde ist und keinen Sinn in diesem Termin sieht, ist es essenziell zu verstehen, warum dein Team Retrospektiven für überflüssig hält. Prüfe dafür im ersten Schritt die obenstehenden Hypothesen in deinem Team.
Wie? Mit einer Retrospektive!
So paradox es klingen mag – mach mit deinem Team eine Retrospektive über die Retrospektive und sprich dabei genau diese Hypothesen (oder deine eigenen) an. Denn diese stehen letztendlich sowieso im Raum – du kannst sie aber für alle transparent machen. Hilfreiche Leitfragen können hierfür sein:
- „Was brauchst du, damit die Retrospektive gut investierte Zeit ist?“
- „Wie kann die Retrospektive gestaltet werden, dass du dich gerne einbringst?“
- „Wie können wir als Team in die Verantwortung gehen, um die beschlossenen Maßnahmen wirklich umzusetzen?“
Und so weiter. Anhand dieser Beispiel-Leitfragen könnt ihr gemeinsam als Team überlegen, wie ihr den Termin sinnvoll und wertvoll für alle Beteiligten gestalten wollt. Es kann auch hilfreich sein, die Hypothesen in ein „stattdessen“ zu wandeln. Das könnte folgendermaßen ausschauen:
Hypothese: Wir nehmen momentan zu viele Maßnahmen pro Retrospektive mit und setzen dann keine oder nur wenige um.
Nun kannst du direkt fragen: „Was wollen wir stattdessen in Zukunft machen?“
Das setzt direkt einen Lösungsfokus bei dem Team und ihr könnt überlegen, wie ihr das nächste Mal damit umgeht, wenn ihr wieder eine Menge mögliche Maßnahmen identifiziert habt.
Probiere etwas Neues
Wenn ihr nun angefangen habt, Verbesserungen für eure eigenen Retrospektiven umzusetzen, dann ist es wichtig, auch die kleinen Dinge, die ihr erfolgreich gemeinsam umgesetzt habt, richtig zu feiern! Manchmal wirkt das wie eine Zündkerze, um die Freude an dem Format wieder zu starten.
Und regelmäßige Retrospektiven stärken übrigens den Reflexionsmuskel von allen Beteiligten.